Donnerstag, 2. April 2009
Liebe Hausärzte! (oder: Nochmal die Sache mit der AZ-Verschlechterung...)
Liebe Hausärzte, ich möchte Euch ein Geheimnis verraten: Im Gegensatz zur landläufigen Ansicht einiger Kollegen bin ich fest davon überzeugt, dass es durchaus ein legitimer Grund ist, einen Patienten ins Krankenhaus zu schicken weil er einfach zu Hause momentan irgendwie halt nicht so zurecht kommt.
Zum Beispiel weil die pflegenden Angehörigen gerade im Urlaub sind.
Ihr dürft dann sogar "AZ-Verschlechterung" auf den postkartengrossen Einweisungszettel schreiben, von mir aus sogar in handschriftlicher Sauklaue.
Nur: Gerade in so einem Fall ist es wichtig, zu wissen, was Ihr von uns eigentlich erwartet. Sonst passiert es nämlich, dass der Patient hier durch die große diagnostische Mangel gedreht wird und Diabetes, Hypertonus und orale Antikoagulation hinterher optimal eingestellt sind und Ihr uns dann vorwerft, der Patient ist mal wieder "vom Krankenhaus zu scharf" eingestellt worden.
Wenn wir hingegen wissen, dass es eine "soziale Indikation ist", dann geben wir halt ein paar Indikationen und suchen uns dann aus den fünfzehn Dauerdiagnosen irgendwas aus, was man in den Entlassungsbrief an erste Stelle stellt damit Verwaltung und Krankenkassen zufrieden sind.
Also nochmal:
Kommunikation ist alles!

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Lieber Medizynicus (betr.: AZ-Verschlechterung)
Also erstmal: (fast) alle niedergelassenen (Haus-)Ärzte waren vorher in der Klinik und wissen, wovon Du redest. Auch wir haben darunter gelitten, dass wir nicht wußten, was Sache ist, haben über die schreibfaulen und unkollegialen Kollegen geschimpft und haben dann die Maschinerie angeschmissen und uns durch den ganzen Sumpf der Multimorbidität gekämpft. Aber, komm Du mal (hoffentlich bald) in die Praxis, dann wirst Du erleben (nicht nur verstehen, am eigenen Leib erleben!) warum das so ist und so war und so sein wird (klingt schon fast ein bisschen religiös).
Es ist nur selten der Urlaub der Angehörigen o.ä., der die Patienten mit "AZ-Verschlechterung" ins Krankenhaus treibt. Es ist vielmehr die - aus welchen Gründen entgleiste - Multimorbidität der Leute und es ist ganz simpel die Tatsache, dass ambulante Patienten/Angehörige nur bedingt den Anweisungen des Arztes folgen. Wärend es im Krankehaus heißt "Mund auf und schlucken", lebt die ambulante Medizin (besonders beim Hausarzt) ständig mit "ich will nicht", "im Waschzettel (Internet) steht aber....", "bei Tante Eulalie und bei Dr. Wohlthat vor 20 Jahren war das ganz anders", "das muß doch viel zu viel sein, Sie wollen mich wohl vergiften" etc., etc., etc.pp!
Wenn dann mal die Blutdrucktabletten nicht mehrgenommen werden ("mein Blutdruck war doch in der letzten Zeit mit 170/95 schon viiiiel besser, Herr Doktor") und die Zucker-Tabletten vergessen werden ("ich war da bei der Geburtstagsfeier und konnte die Tableten nicht nehmen, war doch nicht so schlimm, oder ???...") und wenn dann - durch die nicht und hinterher doppelt eingenommenen Wassertabletten - die Elektrolyte entgleist sind, der Zucker spinnt, der Blutdruck Kapriolen schlägt, dann freut man sich als Hausarzt so richtig, dass man die dringend benötigten Laborwert erst mit 1½-tägiger Verzögerung bekommt, den Termin beim Kardiologen erst in 4 Wochen und den Zucker ... schweigen wir besser. Und dann kommt so langsam in Erinnerung: da gibt es doch noch das Krankenhaus, das hat das alles beieinander, das Labor kommt in 20 Minuten (wenn nötig), EKG, Röntgen ... und vor allem die Diäteernährung mit den von der Küche aufs Tablett gezählten Broteinheiten.
Und dann mit einem Federstrich "AZ-Verschlecherung" auf den Einweisungsschein geschmiert (typisch: Sauklaue = schlechtes Gewissen) und ab zu den Kollegen, die ja so viel besser dran sind!
Merke: "AZ-Verschlechterung" ist nicht die faule Ausrede, wenn der Hausarzt nicht weiter weiß sondern genau die Beschreibung, die in unserem täglichen Arbeitsleben die meiste Mühe bereitet, die aber natürlich in der Uni von den ach so schlauen Professoren nicht gelehrt wird (weil hier unbekannt).
Andererseits, wenn ich "entgleister Diabetes", "Hypertone Krise", "V.a.Elektrolyt-Entgleisung" o.ä. auf den Einweisungsschein schreibe, dann wird der Patient bei den heutigen DRG's* nur genau hier behandelt und vor dem Rest die Augen verschlossen (vielfach erlebte Realität !!! vielleicht nicht in Bad Dingenskirchen).
Und Medikamentenliste! Ich (und viele meiner Kollegen) sagen den Patienten natürlich, sie sollen ihre von mir mit Computer oder auch von der Helferin handschriftlich erstellten Medikamentenlisten mit in's KH nehmen. Wenn sie's aber nicht tun!

Außerdem: viele dieser Einweisungen wg "AZ-Verschlechterung" erfolgen überfallartig und unvorhersehbar beim Hausbesuch. Und da habe ich nun nicht die Zeit (noch 8 andere Hausbesuchspatienten warten, dass ich endlich komme) mich schön langsam hinzusetzten und "und wieviel nehmen Sie jetzt davon" - "Also, ....am Morgen eine, und am Abend ½, nein, am Morgen ½ und Mittag eine, oder ... - ach Hildegard, wieviel nehm ich denn von den gelben ... " und das bei 10 verschiedenen Präparaten, unterbrochen vom - heute üblichen - Dauerlamento über apothekensubstituierte Medikamente, die man ja nicht verträgt, um die Liste, die der Patient (oder die Angehörigen) nicht finden, noch einmal zu erstellen.

"AZ-Verschlechterung " als Einwesungsdiagnostik bedeutet "Neustart", "Reset", "mal wieder den Status Quo bestimmen und alles richtig einstellen", und es bedeutet auch, den Patienten und Angehörigen wieder mal vor Augen zu führen, dass man ja nicht nur an der unwesentlichen Krankheit A und ein bisschen an B leidet, sondern dass man multimorbide ist, dass das bedeutet, dass man sich mit diesem Problem in a l l e n seinen Konsequenzen und tagtäglich auseinandersetzen muß und dass Tabletten nicht nur mal dann einzunehmen sind, wenn man dran denkt und einem so danach ist.

Und wenn der Patient dann wieder optimal eingestellt nach Hause kommt, klappt's natürlich wieder nicht, denn zuhause sitzt kein Diätkoch, sondern da gibts wieder Sahnetorte und Schweinshaxe satt und da muß man natürlich auch etwas belastbarer sein als im Krankenhausbett, und dann ist der Blutdruck und der Zucker wieder "zu scharf" eingestellt. Aber das ist tatsächlich eher das Problem der Hausärzte, die schließlich die Bedingungen im KH kennen und die Medikamente nicht 1:1 übernehmen dürfen. ..."Aber der Herr Professor/der Herr Chefarzt hat gesagt, ich soll..." "Na klar, hat er's halt wieder zu gut gemeint.."
Liebe Kollegen, das ist aber nicht persönlich gemeint!

*DRG = Diagnosos related Groups = Krankheitsklassifizierung, nach denen die Krankenhäuser heutzutage bezahlt werden: Für Diabetes gibts soundsoviel, für Blinddarm einen anderen Betrag, für Herzinfarkt mit Reanimation, für offenes Bein ....Alles was in der Liste nicht drin steht oder was nicht gewünscht ist : nix, niente, nada

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Lieber Landarsch, vielen Dank für diesen ausführlichen, wunderbaren Gastbeitrag (es ist ja schon wesentlich mehr als ein Kommentar!).
Nach diversen Notdiensten und NAW - Einsätzen - kann ich schon nacherleben, was Du meinst - natürlich nicht die Frustration dabei, diesen Patienten über Jahre hinweg betreut zu haben und dank mangelnder Compliance leider nicht die leitliniengerechten DRG-konformen Blutdruck- und Zuckerwerte hingekriegt zu haben.
Was wir halt im Krankenhaus nur gerne wissen möchten ist:
Was wollt Ihr von uns?
Reichen ein paar Infusionen und ein bischen pro-forma Basisdiagnostik um den Patienten für ein paar Tage mal in einer halbwegs sicheren Umgebung "aufzubewahren", oder sollen wir wirklich Blutdruck, Zucker, Antikoagulation etc. pp. "optimal" einstellen?

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was wir wollen
als ich noch ein kleiner Assistent auf der Chirurgie war bekam ich einen Patienten (80 jähriger Bauer aus der "hinteren Einöd') mit einem offenen Bein. Mit Hilfe der - damals vor 25 Jahren - "modernsten" Medizin hatten wir das Bein relativ schnell zu. Da ich mit seinem Hausarzt privat befreundet war, rief ich diesen an und unterrichtete ihn, was er tun müsse, damit das auch so bliebe. Antwort: Homerisches Gelächter! Als er sich beruhigt hatte meinte er, er würde ihn mir trotzdem binnen 6 Wochen wieder reinschicken mit Alles beim Alten. Auf die Frage "warum" informierte er mich, dass die Leute in dieser Gegend Deutschlands meinten, das Bein müsse offen bleiben, damit die Gifte abfließen könnten, sonst würde man sterben und dass dieser Patient alles daran setzen werde, damit er nicht stirbt. Und tatsächlich, nach 5 Wochen war der alte Herr wieder da ...
Was wir Hausärzte vom KH erwarten? Ein bisschen "Hatschi-la-batschi" (mein alter chirurgischer Chef), ein bisschen TLC (= tender loving care, mein Internistischer Chef); ein bißchen zusammenstauchen "das muß besser werden, das geht so nicht, sonst müssen wir ...[operieren][amputieren][Insulin spritzen] etc.", und medizinisch wieder einigermaßen herstellen, dass es so irgendwie weitergeht. Auf leitliniengerechte, DRG-konforme, qualitästgesicherte und was sonst noch optimierte Behandlung lege ich keinen Wert. Der Patient tuts ja auch nicht. Der will bloß l e b e n.

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Nicht nur in dieser Gegend Deutschlands ...
"dass die Leute in dieser Gegend Deutschlands meinten, das Bein müsse offen bleiben, damit die Gifte abfließen könnten, sonst würde man sterben.."

Diese Meinung ist erstaunlicherweise in ganz Deutschland verbreitet. Viele trauen sich nicht, sie ihrem Hausarzt mitzuteilen, um ihn nicht zu enttäuschen.

Oft fühle ich mich an Hippokrates' "löblichen Eiter" erinnert.

Ich bemühe mich übrigens immer, lesbare und ausführliche Einweisungen zu schreiben.

(Manchmal ist die Zeit so knapp, dass ich das nicht schaffe - weil ich mich z.B. bis zum Eintreffen des NAW mit dem Patienten beschäftigen muss.)

Ich glaube aber, dass mein Text auf den Einweisungen und die darauf vermerkten Fragestellungen in etwa der Hälfte der Fälle nicht gelesen oder bewusst ignoriert werden.

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Nicht gelesen?
Das ist möglich. Ab und zu verschwindet der Zettel auch ziemlich schnell irgendwo zwischen den anderen Papieren im Paralelluniversum, bevor unsereins Gelegenheit hat, einen Blick drauf zu werfen.
Aber bewusst ignorieren? Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen - zumindest nicht dann, wenn die Fragestellung halbwegs mit unseren Möglichkeiten korelliert (was meistens der Fall sein sollte)...

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Kollegialer Respekt
Derzeit arbeite ich auf einer Notfallstation und bin häufig Adressat von "AZ-Verschlechterungen". Ich sehe sie in der Regel, wie von "Landarsch" und "Landarzt" beschrieben, als eine Art "Reset" des Hausarztes. Und da auf Notfallstationen das Identifizieren des Hauptproblems und der relevanten Nebenprobleme zur täglichen Arbeit gehört, ärgere ich mich eigentlich nie. Aber ich erinnere mich gut an Zeiten, in denen ich in den "Kleingebieten" gearbeitet habe und die Sicht auf das Grosse-Ganze fachbedingt schwierig war. Aus dieser Perspektive verstehe ich Medizynicus. Das vergeht aber mit den Jahren. So wie man insgesamt (hoffentlich) merkt, dass die klugen Kommentare über die angeblich so dumme Therapie des Hausarztes bei der Chefvisite mehr von mangelnder Übersicht, als von breitem medizinischen Wissen zeugen. Ich habe das früher selbst geglaubt und natürlich beflissen gegrinst, wenn meine Chefs so geistreiche Witze gemacht haben. Später, als ich dann ein bisschen eigene Erfahrung hatte, habe ich gemerkt, dass es meist auch für den scheinbar grössten Unsinn eine Erklärung gab, die, wie weiter oben so gut dargestellt, in der Regel im Wesen des Patienten lag.
Drum: Aus welcher Fachrichtung wir auch kommen mögen, in der Regel verstehen wir etwas von unserem Job. Wir sollten uns deshalb gegenseitig in dieser Kompetenz und in den Grenzen unseres eigenen Könnesn respektieren. Der Patient profitiert dann am meisten.

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das war ein schönes schlusswort
zu dieser interessanten Diskussion.
Vielen Dank an alle Teilnehmer!

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