Dienstag, 9. September 2008
AZ-Verschlechterung, die Zweite
Es ist Sonntag Abend, zwanzig Uhr dreißig.
Diesmal bin ich nicht in der Notaufnahme, sondern im hausärztlichen Notdienst. Es war gut was los tagsüber und jetzt kommt noch ein Anruf rein:
Zweiundneunzigjährige Dame in einem kleinen Häuschen am Rande eines kleinen Dörfchens direkt am Waldesrand: Eines von diesen Dörfchen, die sehr idyllisch sind zum Spazierengehen, aber nicht unbedingt ein spannender Ort um dort zu leben: Bäcker und Tante-Emma-Laden haben schon vor über zehn Jahren zugemacht und das Gasthaus steht inzwischen auch leer.
Und Frau Hoffmann wohnt schon seit sechzig Jahren dort in ihrem kleinen Hexenhäuschen. Dort hat sie ihre vier Kinder zur Welt gebracht und dort sind diese aufgewachsen bis sie dann groß genug waren um in die weite Welt hinauszuziehen, und zwar mindestens fünfhundert Kilometer weit weg. Die Kinder sind jetzt auch schon im Rentenalter und die Enkel leben noch weiter weg, einer ist sogar in Amerika.
Und die Frau Hoffmann wohnt immer noch in ihrem kleinen Hexenhäuschen. Die Nachbarn kümmern sich ein wenig um sie, kaufen ein und hacken Holz für den Kohleofen, aber die sind auch nicht mehr die Jüngsten.
Denen ist aufgefallen, daß Frau Hoffmann in der letzten Zeit zunehmend "tüdelig" geworden ist. Eines Tages stand sie zum Beispiel morgens um halb fünf vor der ehemaligen Bäckerei die seit zehn Jahren zugesperrt ist und hat gewartet, daß die aufmachen.
Jetzt war Frau Hoffmanns Enkel für drei Wochen da. Er hat versucht, ein paar Sachen anzuleiern: Daß ein Pflegedienst regelmässig vorbei kommt (Es war übrigens nicht einfach, diese Sachen mit der Krankenkasse zu regeln!) und Essen auf Rädern und so weiter.
Außerdem hat er mit den Nachbarn und mit dem Hausarzt gesprochen und irgendwann hat der Enkel gemerkt, daß es so auf Dauer nicht weitergehen kann. Aber seine Oma will nicht ins Heim.
"Wenn ich hier rausgehe, dann mit den Füßen zuerst!" sagt sie.
Aber jetzt geht es einfach nicht mehr! Seit ein paar Tagen ist Frau Hoffmann völlig durch den Wind, und jetzt ein langes Wochenende und der Hausarzt ist in Urlaub und der Enkel muß morgen früh wieder arbeiten, fünfhundert Kilometer weit weg, er hat noch eine lange Fahrt vor sich.
Also hat er den Doktor gerufen.
"Machen Sie etwas!" sagt er, "aber sie kann auf keinen Fall alleine hier bleiben!"
Warum ihm das nicht vorher eingefallen ist?
"Ich habe doch alles versucht! Aber sie wollte ja nicht!"
Und da bleibt mir gar nichts anderes übrig, als die gute Dame einzuweisen... auch wenn ich mir von dem Dienst habenden Kollegen morgen früh eine Gardinenpredigt anhören müssen werde...
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Warum muss immer was getan werden? Warum kann man Menschen nicht ihre Würde lassen, zu der meines Erachtens auch gehört, dass sie dort sterben dürfen, wo sie wollen und nicht wo die Angehörigen, die Ärzte oder sonst wer will.

Frau Hoffmann ist ja schliesslich weder ernstlich krank noch gemeingefährlich, sondern 92 und nur nach Einschätzung ihrer Umgebung !!! "tüdelig"

Alle "Tüdeligen" kommen jetzt ins Krankenhaus? Nau serwas!

Ärzte sollten nicht dazu da sein, den Angehörigen das schlechte Gewissen abzunehmen, oder die Absolution zu erteilen, denke ich.

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Pille - Wie Recht Du hast! Genau darum geht es ja: Niemand will Verantwortung übernehmen, vor allem die Angehörigen nicht (oder können es auch vielleich nicht..)
Aber die Dame braucht einfach Hilfe. Am besten wäre jemand, der regelmässig zu ihr kommt, den Haushalt macht, kocht, ihr beim Anziehen hilft und am besten auch noch nachts da ist, falls sie verwirrt durch das Haus geistert... aber es ist keiner da.
Sie einfach zu Hause zu lassen wo sie mit grosser Wahrscheinlichkeit verwahrlosen würde.... wäre auch nicht unbedingt ethisch vertretbar...

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